Der liebende Blick

« Der König hatte sich in Sabrina verliebt, eine Frau von niederem Stand, und sie zu seiner jüngsten Ehefrau gemacht. Eines Nachmittags, der König war gerade auf der Jagd, überbrachte ein Bote die Nachricht, dass Sabrinas Mutter krank daniederlag. Und obwohl es bei Todesstrafe verboten war, die persönliche Kutsche des Königs zu benutzen, bestieg Sabrina den Wagen und eilte zum Haus ihrer Mutter.

Sofort nach seiner Rückkehr wurde der König darüber informiert. Ist das nicht fabelhaft, sagte er. Das ist wahre Tochterliebe. Sie hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt, nur um ihre Mutter pflegen zu können. Es ist wunderbar.

An einem anderen Tag sass Sabrina im Garten des Palastes und ass Obst, als der König zu ihr trat. Sie begrüsste ihn und liess ihn vom letzten übriggebliebenen Pfirsich aus ihrem Korb abbeisen. Sie schmecken, sagte der König.
Und wie, sagte Sabrina und überliess ihrem Geliebten die Frucht.
Wie sehr sie mich liebt, bemerkte der König später. Sie hat zu meinen Gunsten auf ihren letzten Pfirisch verzichtet. Ist sie nicht bezaubernd?

Einige Jahre gingen ins Land, und, aus welchem Grund auch immer, Liebe und Leidenschaft waren aus dem Herzen des Köngis verschwunden. Seinem besten Freund gegenüber sagte er: Nie hat sie sich wie eine Königin verhalten. Einmal hat sie mein Gebot übertreten und einfach die köngliche Kutsche benutzt. Und ein anderes Mal hat sie sich erlaubt , mir eine angebissene Frucht anzubieten.»

Symbolbild für die Kurzgeschichte der liebende Blick

Eine schöne Kurzgeschichte von Jorge Bucay aus dem Buch «Komm, ich erzähl dir eine Geschichte», wiederspiegelt wie schnell wir die ein und selbe Situation unter anderen Einflussfaktoren unterschiedlich interpretieren. Unsere vorherrschenden Emotionen und unser Befinden haben dabei einen enormen Einfluss. Wie schnell sehen wir etwas in einem anderen Licht, weil wir uns selbst gerade nicht gut fühlen? Wie schnell fällen wir ein Urteil über andere ohne den Kontext richtig zu kennen?